Vitamin C wurde bei akuter Poliomyelitis bisher aus folgenden Überlegungen gegeben: Allgemein erhöhter C-Verbrauch im Fieber, C-Schwund in den Nebennieren von an Poliomyelitis Verstorbenen (wie bei anderen Infektionskrankheiten, Stress), allgemeiner unspezifischer antiinfektiöser und antitoxischer Effekt (Literatur bei Jungeblut, 1937b; Pette; Fanconi 1944, 1952). Bis vor wenigen Jahren konnten aus äußeren Gründen nur relativ kleine Dosen appliziert werden (0,5—1 g/die), welche auch den theoretischen Überlegungen angepaßt waren (Vitaminmangel).
Folgende Gründe veranlaßten uns, seit 1949 eine Behandlung der akuten Poliomyelitis mit hohen Dosen Ascorbinsäure zu versuchen: Signifikanter Schutz des Affen mit parenteral applizierter Ascorbinsäure (100-400 mg/ 24 Std.) gegen die leicht dosierbare inracerebrale Infektion mit Poliomyelitis-virusstämmen (RMV- und Aycock-Stamm; Jungeblut, 1935, 1937, 1939). Nach der schwer kontrollierbaren nasalen Infektion am Affen konnte zwar weder Sabin (1939) noch Jungeblut (1939) durch Äscorbinsäure eine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs beobachten. In den Nebennieren und im Nervengewebe von gelähmten Affen war der Ascorbinsäuregehalt herabgesetzt (Jungeblut und Feiner, 1937). Bereits 50 mg% synthetische Ascorbinsäure (pH 5,37-5,2) inaktivieren in vitro das Poliomyelitisvirus (RMV-Stamm; Jungeblut, 1939). Ähnlich wirkt die Ascorbinsäure gegen das Virus der Lyssa, Variola, Maul- und Klauenseuche, Herpes simplex, Grippe, Tabakmosaik und gegen Bakteriophagen (Literatur bei Jungeblut, 1939). Die erforderliche Konzentration für den Grippevirusstamm PR8 war vergleichsweise bei pH 7 in vitro 0,05 n = 880 mg% (Knight und Stanley, 1944). Dieser Wirkung der Ascorbinsäure liegt natürlich kein Vitamineffekt zugrunde. Sie wirkt hier analog einem Chemotherapeuticum, wahrscheinlich in Zusammenhang mit ihrem Redoxpotential. Der Wirkungsmechanismus wird auf das Freiwerden von H202 zurückgeführt, welcher bei der kupfer-katalysierten Ascorbinsäureoxydation gebildet wird; Katalase hemmt den viruciden Effekt von 0,1% H202 und Ascorbinsäure gegen das Grippevirus total (Lojkin, 1937; Barron, DeMeio, Klemperer, 1936; Lyman u. Mitarb., 1937; Jungeblut, 1939; Klein, 1945). Infolge des ubiquitären Vorkommens einer hochaktiven Katalase im Organismus ist die Gültigkeit dieses hypothetischen Wirkungsmechanismus in vivo allerdings in Frage gestellt. Um in der gesamten Körperflüssigkeit eines Menschen von 60 kg eine Ascorbinsäurekonzentration von 50 mg% zu erreichen, müßten etwa 23 g appliziert werden.
Seit dem Herbst 1949 wurde der Hälfte der akuten Poliomyelitisfälle (9; 5 , 4 ) sofort nach Spitaleintritt 10—20 g Ascorbinsäure1 pro die appliziert, die ganze Tagesdosis oder die Hälfte als Natriumascorbat i.v., der Rest oral, auf 2—6 Einzeldosen verteilt (1. Gruppe). Je die Hälfte der Kontrollfälle (7 im selben Zeitraum; 4 ‚ 3 = 2. Gruppe. 19 seit 1947 total; 10 ‚ 9 = 3. Gruppe) erhielt entweder 10 bis 60 cm3 Rekonvaleszentenserum oder kleine Dosen Vitamin B und E. Zu der leichten, eiweißreichen Diät wurden, namentlich während des Fiebers, 100—500 cm3 Fruchtsaft pro die verabreicht (Orangen, Zitronen usw.). Es sei daran erinnert, daß Jungeblut (1939) mit natürlichem Vitamin C bei der künstlichen Poliomyelitisinfektion der Affen einen besseren Schutzeffekt beobachtete als mit synthetischer Ascorbinsäure.
1 Redoxon Hoffmann-LaRoche, Basel, das uns die Firma freundlicherweise zur Verfügung stellte.
Intensität und Ausdehnung der Lähmungen (einzelne Extremitäten, Erector trunci, Blase usw.) waren in allen drei Gruppen gleich verteilt. Von 7 untersuchten Fällen des Jahres 1951 fand sich mit Serum viermal ein positiver Neutralisationstest gegen Coxsackie- und zweimal ein positiver Kältehämagglutinations-Hemmungstest gegen Parapoliomyelitisvirus2 (Vivell und Maurer, 1952; Vivell, Schmitt und Gerstner, 1952). Unter den letzteren zeichnete sich besonders ein Fall mit mittelschweren Lähmungen durch einen AK-Titeranstieg gegen Parapoliomyelitis von 1:10 auf 1:40 und nachfolgendem Abfall auf negative Werte aus.
2 Die serologischen Analysen verdanke ich Herrn Dr. med. O. Vivell, Universitäts-Kinderklinik, Freiburg i. Br.
Für die Beurteilung des Verlaufs wurden folgende Kriterien verwertet: Stillstand resp. Zunahme der Lähmungen nach Behandlungsbeginn (= Spitaleintritt); Fieberdauer; Dauer der Zunahme der Lähmungen nach Behandlungsbeginn; Dauer des Regressionsstadiums bzw. Geschwindigkeit des Rückgangs der Lähmungen (gerechnet bis zu ihrem Verschwinden bei leichten oder bis zum Stillstand einer merklichen Besserung bei schweren Fällen mit Residuärlähmung). Tab. 1 gibt eine Übersicht über die Resultate, wobei die 9 mit Ascorbinsäure behandelten Fälle einmal den 7 Kontrollfällen derselben Zeitperiode (2. Gruppe), zur Vergrößerung der Zahl der Kontrollfälle auch allen seit 1947 beobachteten Poliomyelitiden gegenübergestellt sind (3. Gruppe). Als Beginn der Krankheit wurde das erste meningitische Symptom gewertet. Der häufigere Stillstand der Lähmungen bei Ascorbinsäureapplikation (7/9) kann infolge der geringen Zahl der Fälle gegenüber der simultanen Kontrollgruppe Nr. 2 (2/7) statistisch nicht gesichert werden (P = 4%); wohl aber gegenüber der auf 2 vorhergehende Jahre erweiterten Kontrollgruppe Nr. 3 (P = 1 %). Dabei ist allerdings der Vergleich mit Fällen teilweise früherer Jahre fragwürdig. Dasselbe gilt für die Verkürzung der Fieberdauer durch Ascorbinsäure-Applikation. Es ist auffällig, daß die 2 Fülle der Ascorbinsäuregruppe (Nr. 1), bei welchen die Lähmungen nach Therapiebeginn noch zunahmen, erst am 4. resp. 5. Krankheitstag eingetreten waren; die übrigen 7 Fälle kamen alle schon im Verlauf des ersten Tages zur Behandlung. Obwohl die absolut verkürzte mittlere Regressionszeit wiederum zugunsten der Ascorbinsäurebehandlung spricht, lassen sich die Zahlen der drei Gruppen infolge der großen Streuung statistisch nicht sicherstellen. Die Lähmungen schritten hei den Fällen der 1. Gruppe (Ascorbinsäure) nur noch 2 Tage lang weiter, bei der simultanen Kontrollgruppe (Nr. 2) im Mittel 4 (1-7) und bei der 3. Gruppe 2,7 Tage lang (1-7); auch hier ist eine statistische Sicherung unmöglich. Beeinflussung der Resultate durch ungleichen Behandlungsbeginn in Bezug auf den Krankheitsbeginn besteht sicher nicht (letzte Kolonne der Tab. 1). Die Zahl der Residuärlähmungen ist in allen drei Gruppen gleich groß.
3 Fälle mit rapider Landryscher Paralyse, welche in den beobachteten Zeitraum fielen, wurden aus dieser Statistik ausgeschlossen. Die Krankheitedauer betrug 2—4 Tage, der Spitalaufenthalt bis zum Exitus 12, 36 und 90 Stunden. Angesichts des totalen Schwundes der Vorderhornzellen auf Rückenmarksschnitten3 ist es evident, daß schon bei Spitaleintritt die Zerstörung der Nervenzellen vollständig und irreversibel und daher jede kausale Therapie aussichtslos ist.
Klenner hat in enthusiastischer Weise Erfolge der Ascorbinsäure-Applikation bei Viruskrankheiten beschrieben: Viruspneumonie (1948), Poliomyelitis, Herpes zoster und simplex, Varicellen, Influenza, Mumpe, Masern usw. (1949, 1951). 60 «Poliomyelitis»-Fälle entfieberten nach 2-4stünd-licher intramuskulärer Injektion von 1-2 g Ascorbinsäure und waren nach 3 Tagen alle beschwerdefrei. Da es sich aber um aparalytische Fälle und daher bestenfalls um die meningitische Form der Poliomyelitis gehandelt hat, lassen sich diese Resultate nicht objektivieren. Einzig ein Sjähriger Knabe (1 Jahr nach dieser Epidemie) wies Paralyse der Beine auf, welche nach Ascorbinsäure-Applikation zurückging: Es wird nicht auf Kontrollfälle Bezug genommen. Die häufige i.m. Injektion von 1—3 g Ascorbinsäure verursachte in über 50 Fällen lokale Beschwerden und Schädigungen.
Als Nebenerscheinung wurde von uns bei maximaler i.v. und oraler Dosierung (z. B. 25—30 g Ascorbinsaure pro die) eine vorübergehende Glykosurie beobachtet. Sie entspricht Befunden von Tro/imow‘itsch (1951) am Kaninchen (mit Ascorbinsäuredosierung analog etwa 12 g am Menschen). Bei Tagesmengen über 20 g Ascorbinsäure sind regelmäßige Urinkontrollen angezeigt. Bezüglich Therapieerfolg ließ sich kein Unterschied zwischen i.v. und oraler Applikation feststellen. Theoretisch erscheint gleichzeitige i.v. und orale Applikation am zweckmäßigsten, da Darminhalt und Stuhl am längsten virushaltig sind.
‚ Die autoptischen Befunde verdanke ich Herrn Prof. Dr. A. Werthernann und Herrn Prof. Dr. S. &heidegger (pathologisch-anatomisches Universitätsinstitut, Basel).
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Aus der geringen Zahl von Fällen lassen sich keine endgültigen Schlüsse ziehen. Diese Mitteilung, die mit allem Vorbehalt geschieht, soll anregen, den Effekt von hohen Dosen Ascorbinsäure auf die Poliomyelitis auch an anderen Spitälern und in der Praxis in größerem Maßstab zu prüfen, um zu einer besseren statistischen Sicherung der Resultate zu kommen.
Zusammenfassung
Seit 1949 führte in 7 von 9 Fällen (7/9) von akuter Poliomyelitis mit Lähmungen aller Schweregrade die gleichzeitige i.v. und orale Applikation von 10—20 g Ascorbinsäure pro die zum Stillstand der Lähmungen, zur Verkürzung der Fieberdauer und des Regressionsstadiums. In der simultanen Kontrollgruppe war das Verhältnis 2/7, in der Kontrollgruppe seit 1947 5/19. Die Resultate lassen sich nur teilweise statistisch sicherstellen.
Tabelle 1 |
|||||||
No. |
Gruppe |
Anzahl |
Stillstand |
Dauer (Tage) |
|||
des Fiebers nach Behandlungs- beginn |
des Regressions-stadiums |
vom Krankheits bis zum Behandlungsbeginn |
|||||
1 |
Hohe Dosen Ascorbinsäure 1949—1951 | 9 | 7/9
|
2,0 (1—3) |
35,4 (28—54) |
3,9 (2—6) |
|
2 | Zur 1. Gruppe simultane Kontrollfälle 1949 bis 1951 | 7 | 2/7 | 2,7 (0—5) |
42,7 (25—74) |
4,6 (1—13) |
|
3 | Total der Kontrollfälle (inkl. 2. Gruppe) 1947—1951 |
19 | 5/19 | 3,6 (2—6) |
99,1 (19—338) |
4,4 (1—13) |
|
total |
28 |
15 männ. 13 weib. | |||||
Signifikanz | P bezüglich 1 und 2 | 4% | 22,5% | 31% | 61% | ||
P bezüglich 1 und 3 | 1% | <1% | 8% | 65% | |||
Die Signifikanz gilt als statistisch gesichert, wenn P = 1% und kleiner ist (nach Jt. A. Fischer, 1948).- Die Berechnungen verdanke ich Herrn Dr. phil. II W. Hunzinger. |
Barron, E. 8. 0., De Meio, R. H., Klemperer, F.: J. bio!. Chem. (Am.) 112, 625
(1936). — Fauconi ‚ 0.: Die Poliomyelitis und ihre Grenzgebiete, Benno Schwabe & Co.
Basel 1945; Hdb. inn. Med. 4. Aufl. (1952), Springer, Bd. 1/1, S. 551. — Jnngeblut,
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315 (1939). — Jwngeblut, C. 1V., und Feiner, P. R.: J. exper. Med. (Am.) 66, 479
(1937). — Klein, M.: Anier. J. med. Sei. ~09, 643 (1945); Science 101, 587 (1945). —~lenner, F. R.: South. Med. a. Surg. (Am.) 110, 36 (1948); 1949 (Juli), 209; 19M
(April), 101. — KnighI, C. A., und Stanley, W. M.: J. exper. Med. (Ani.) 79, 291
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Nr. 479, April 1951, Moskau. Zit. nach Chem. Zbl. 19~1/II, 22, 3192. — Viveil, O~, und Maurer, R.: Z. Inununit.forsch. 109, 246 (1952). — Vivelt, 0., Schmitt, E., und Gerstner, A.: Z. Immunit.forsch. 109, 274 (1952).
Diskussion
J. Wirth (Genève): L’action de l’acide ascorbique dans la poliomyélite est d’au. tant plus intéressante que ce produit est le seul qui ait une action inhibitrice sur le virus grippal in vitro et in vivo. C’est un produit qui ii’est pas étranger au corps humain et qui peut pénétrer à l’intérieur des cellules, là où se réfugient les virus. Aucun autre produit clinique n’a d’action inhibitrice sur les vrais virus dans leur situation intracellulaire.