Bei der Behandlung von Blutungen und Blutungebereitschaften aller Art erwies sich das Vitamin C nach den Arbeiten von BÖGER und MARTIN, BÖGER und SCHRÖDER, STEPP, SEDLACEK, ENGELKES, FREY, SCHLOESSMANN, SEYDERHELM u. a. als recht wirksam. Inwieweit diese als Teilsymptom der verschiedenartigsten Erkrankungen, wie z. B. schweren Infektionen, der Werlhoffschen Erkrankung oder Darmblutungen beim Typhus und Paratyphus, ikterischen Blutungen und schließlich der Blutkrankheiten mit der Blutungsneigung bei Skorbut sich vergleichen lassen und damit im wesentlichen auf den Vitamin C-Mangel zurückzuführen sind, läßt sich zur Zeit noch nicht mit Sicherheit entscheiden. Das Vitamin C entfaltet im Organismus zahlreiche Wirkungen, von denen die Symptome des klinischen Skorbuts oder Präskorbuts nur einen Teil der Mangelsymptome darstellen. Die Wirkungen der Ascorbinsäure auf die Gefäße, das Knochenmark und den intermediären Stoffwechsel sind hiervon nicht klar abzutrennen.
Bei der Behandlung der Blutkrankheiten und verwandter Zustände bei anderen Erkrankungen wurde das Vitamin C in der letzten Zeit von ANDREU-URRA und REGLI, BÖGER und MARTIN, SCHADE, GRUNKE und OTTO, SCHNETZ und im besonderen für die Leukämie von EUFINGER und GAETHGENS empfohlen. Schließlich sind in diesem Zusammenhange noch die Arbeiten von HAHN, CARRIÉ, SCHNEIDER, DEITEL, KUDLAC und STORM, VOGT, EDEL u. a. zu nennen, die darüber hinaus über die Wirkung von Vitamin C-Gaben auf die Nebenerscheinungen bei der Röntgenbehandlung der malignen Tumoren und die bei derselben relativ häufig auftretende „Strahlenleukopenie“ berichten.
Auf Grund früherer eigener Beobachtungen bei der Unterstützung der Strahlenbehandlung von malignen Tumoren durch Anwendung des Vitamin C wurde der Eindruck gewonnen, daß die Strahlenleukopenie nicht in therapeutisch verwertbarem Maße auf Vitamin C-Injektionen anspricht, daß es jedoch sicher den Allgemeinzustand günstig beeinflußt und so zur Ergänzung der Strahlenbehandlung der malignen Tumoren mit Vorteil herangezogen werden kann. Die Strahlenleukopenie gelingt es meist durch Injektion von Leberpräparaten und in schweren Fällen durch Bluttransfusionen zu beheben.
Dagegen hat das Vitamin C offenbar bei der „genuinen Leukopenie“ bzw. Agranulozytose eine günstige Wirkung. KALK hat kürzlich über 6 Kranke mit Agranulozytose berichtet, bei denen durch intravenöse Vitamin C-Injektionen ein Umschwung der Erkrankung mit Anstieg der granulierten Zellen eintrat.
Die klinische und röntgenologische Behandlung der chronischen Leukämien müssen sich gegenseitig ergänzen, und bei dem oft jahrelangen Verlauf dieser Krankheiten hängt oft genug das Schicksal des Kranken davon ab welche therapeutischen Maßnahmen durchgeführt werden. Eine Vitamin C-Behandlung allein ist, abgesehen von ihrem sehr fragwürdigen Erfolg, wollte man nicht die 35jährige Erfahrung in der modernen Behandlung der Leukämien gänzlich übergehen, nicht zu empfehlen. Einzelne in der Klinik, auch von H. E. BOCK gemachte Behandlungsversuche lediglich mit Vitamin C waren erfolglos. Eine ergänzende Behandlung der chronischen Leukämien, um den Allgemeinzustand zu heben, wie sie von uns und anderen bei der Strahlenbehandlung der malignen Tumoren durchgeführt wird, scheint dagegen günstig zu wirken. Bei der eine akute Verschlimmerung der chronischen Leukämie oft begleitenden Neigung zu Blutungen sind Vitamin C-Gaben ohnedies von Nutzen.
In diesem Zusammenhange soll hier kurz über den Vitamin C-Verbrauch des Leukämikers berichtet werden. Es wurden Bilanzversuche bei 3 Kranken mit myeloischer und 3 Kranken mit lymphatischer Leukämie nach der an anderer Stelle beschriebenen Belastungsmethode vorgenommen. Zur Behandlung kam Redoxon forte zur Verwendung.
Zu dieser Methode sei folgendes angeführt: Das Vitamin C wurde intravenös verabfolgt und die Ausscheidung alle 3 Stunden im frischgelassenen Urin jeweils durch Titration gegen Dichlorphenolindophenol nach TILLMANNS kontrolliert. Der Nachturin wurde gesammelt morgens um 8 Uhr titriert. Es werden hohe Dosen gegeben, die, sobald die Ausscheidung im Urin ansteigt, herabgesetzt werden, bis nach einigen Tagen eine größere Ausscheidung stattfindet. Die Vitamin C-Menge, die hierzu notwendig ist, nennen wir das „aktuelle Vitamin C-Defizit“. In den meisten Fällen ist es anschließend möglich, durch tägliche kleinere Gaben die Ausscheidung des Vitamin C im Urin auf einer annähernd gleichen Höhe zu halten. Dieses so festzustellende „laufende Vitamin C-Defizit“ konnte aus äußeren Gründen nur bei 2 der Kranken festgestellt werden. Wegen der Einzelheiten dieser Belastungsmethode mit Vitamin C wird auf die frühere Arbeit hingewiesen. Über den Verlauf der Ausscheidungs- und Retentionskurve bei Leukämikern geben die im folgenden angeführten Kurven Aufschluß.
Kurze Auszüge aus den Krankenblättern sollen den in den Kurven dargestellten Krankheitsverlauf ergänzen.
F. R., 55 Jahre, Metzger und Gastwirt. Diagnose: Chronische myeloische Leukämie mit starker Milzvergrößerung (siehe Abb. 1). Familienanamnese o. B. Mäßiger Potus. Seit etwa 4 Monaten abends geschwollene Füße, seit 3 Wochen wird der Bauch dicker, Atemnot. Befund: Stark abgemagerter mittelgroßer Mann, blaß, Zyanose der Lippen und Ohrläppchen, mäßige Dyspnoe. Keine Lymphknotenvergrößerungen. Herz nicht verbreitert. RR. 130/75. Puls regelmäßig 120. Leib: Milz bis zur Symphyse reichend, den Bauchraum von links bis handbreit über die Mittellinie nach rechts ausfüllend. Blutbild: Hb 67%, Erythrozyten 3 Mill., Leukozyten 293 000. Differenzierung: Stab. 18%, Segm. 27%, Eos. 1½%, Basoph. 3½%, Lymphozyten 3% Metamyelozyten 13½%, Promyelozyten 3½%, Myelozyten 23%, eosinophile Myelozyten 2%, basophile Myelozyten ½%, Myeloblasten 3½%, Normoblasten ½%, Retikulumzellen ½%. Nach der Behandlung hat sich die Milz um etwa die Hälfte zurückgebildet. Blutbild bei der Entlassung: Hb 67% Erythrozyten 3,6 Mill., Leukozyten 50 000, Differenzierung: Stab. 34%, Segm. 36%, Eosinoph. 1%, Basoph. 2%, Myelozyten 12%, Metamyelozyten 14%, eosinophile Myelozyten 1%.
Abb. 1 |
K. B., 55 Jahre, Hausfrau. Diagnose: Chronische myeloische Leukämie (siehe Abb. 2). Familienvorgeschichte o. B. 1927 Gallenkoliken. 1933 klimakterische Blutungen. Seit etwa ¾ Jahren unbestimmte drückende Schmerzen im Leib. Zahnfleischblutungen, Müdigkeit. Befund: Blasse Frau in mittlerem Allgemeinzustand. Die Durchuntersuchung ergibt keine Besonderheiten, die Milz ist gerade unter dem Rippenbogen zu fühlen. Blutbild: Hb 82%, Erythrozyten 4,8 Mill., Leukozyten 83 000. Differenzierung: Jugendl. 5%, Stab. 13%, Segm. 51%, Eosinophile 3%, Basophile 2%, Lymphozyten 6%, Myelozyten 18%, Myeloblasten 2%. Nach Behandlung: Leukozyten 32 000, Jugendl. 7%, Stab. 18%, Segm. 40%, Eosinophile l%, Basophile 2%, Lymphozyten 4%, Monozyten 8%, Myeloblasten 6%, Myelozyten 11%, Plasmazellen 3%. Besserung des Allgemeinbefindens, die Milz ist nicht mehr zu fühlen. Vorzeitige Entlassung.
Abb. 2 |
Es handelt sich bei R. um eine fortgeschrittene myeloische Leukämie, die gesamte Vitamin C-Retention betrug 1840 mg. Bei B. handelt es sich um eine mittelschwere Erkrankung, die durch die Behandlung so weit gebessert wurde, daß die Kranke ihre Arbeit als Hausfrau wieder verrichten konnte. Das Vitamin C-Defizit betrug 1470 mg. Diese Vitamin C-Mengen stellen gegenüber dem bei anderen Erkrankungen zu findenden „aktuellen Defizit“ keine besonders hohen Werte dar. Es gelang daher auch, das Defizit mit einigen Injektionen von Redoxon forte abzudecken. Durch die kombinierte Behandlung konnte in beiden Fällen eine befriedigende Besserung erreicht werden.
Anders ist das Ergebnis der Vitamin C-Belastung bei den chronischen lymphatischen Leukämien. Vorversuche hatten gezeigt, daß bei diesen Formen besonders beim Vorhandensein größerer Drüsenpakete eine Absättigung des „aktuellen Defizits“ durch mittlere Vitamin C-Mengen nicht zu erreichen war. Es mußten daher beträchtlich höhere Vitamin C-Mengen verabreicht werden.
A. Sch., 58 Jahre, Seegrasspinner. Diagnose: Chronische leukämische lymphatische Lymphadenose mit Vergrößerung zahlreicher Lymphknoten und Milzvergrößerung (siehe Abb. 3). Familienanamnese o. B. Seit 20 Jahren am Halse vergrößerte Drüsen, die jedoch ständig gleich geblieben sind. Am Halse keine Operationsnarben. Seit 1 Jahr rheumatische Beschwerden. Seit ¼ Jahr werden die Lymphknoten am Halse größer, es sind außerdem noch Lymphknotenvergrößerungen in den Achselhöhlen und den Leistenbeugen aufgetreten. Im Februar 1939 erstmalige Klinikaufnahme und Bestrahlung der Tumoren, der Kranke hat nach der Entlassung gearbeitet und sich wohl gefühlt. Zweite Behandlung im Juli 1939. Das Allgemeinbefinden ist gut, die Tumoren sind nicht größer geworden. Es werden jetzt auch Hilusvergrößerungen beiderseits festgestellt. Die Milz reicht bis handbreit unterhalb des Rippenbogens. Blutbild: Hb 85%, Erythrozyten 4 Mill., Leukozyten 100 000. Differenzierung: Stab. 1%, Segm. 3%, Eosinophile 1%, Lymphozyten 95%. Es wird dieses Mal eine Bestrahlung sämtlicher Tumoren, der Hili und der Milz vorgenommen. Die Leukozyten sinken auf 97 000.
Abb. 3 |
F. W., 55 Jahre, Holzhauer. Diagnose: Chronische leukämische lymphatische Lymphadenose mit erheblichen Lymphknotenvergrößerungen und großen Tumoren im Bauchraum (siehe Abb. 4).
Abb. 4 |
Familienanamnese o. B. Seit dem Jahre 1935 Völlegefühl im Bauch, jedoch keine besonderen Beschwerden. Seit August 1938 Zunahme des Leibumfanges. Seit September 1938 Stärkerwerden des Halses. Kurzluftigkeit. Dezember 1938 Klinikaufnahme. 89 000 Lymphozyten. Nach Bestrahlung 39 000. April bis Mai 1939 2. Röntgenbehandlung. Juli—August 1939 3. Behandlung. Blutbild: Hb 90%, Erythrozyten 4 Mill., Leukozyten 62 000. Differenzierung: Segm. 6%, Lymphozyten 94%, Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit 11 mm nach WESTERGREEN. Beiderseits am Hals, in den Axillen und Leistenbeugen zahlreiche bis hühnereigroße Lymphknoten. Der Bauch ist prall, Leber und Milz sind gegenüber einem knolligen Tumor im Mittelbauch nicht abgrenzbar. Die Hili sind kleinapfelgroß. Im November—Dezember 1939 4. Behandlung. Die Lymphknoten sind erheblich kleiner geworden, die Leukozyten sanken von 62 000 auf 22 600.
Das „aktuelle Vitamin C-Defizit“ betrug bei diesen beiden Kranken 11 820 mg und 11 240 mg. Es handelt sich um ausgedehnte leukämische Lymphadenosen, bei denen sich die Zahl der weißen Blutkörperchen in mäßigen Grenzen hielt. Das „laufende Defizit“ betrug bei dem einen und einem weiteren Kranken etwa 200 mg.
Es ergab sich also, daß das Vitamin C-Defizit bei den leukämischen lymphatischen Lymphadenosen gegenüber der myeloischen Leukämie um ein Vielfaches größer war. Frühere Vitamin C-Bilanzuntersuchungen bei der Lymphogranulomatose und Tumoren mit Metastasen, die in bezug auf die Ausdehnung der Neubildungen, dagegen nicht in bezug auf die Schwere des klinischen Krankheitsbildes ähnlich gelagert waren, ergaben das Vitamin C-Defizit mit 1000—3000 mg und in ganz schweren Fällen mit 5000 mg. Es zeigt sich, daß bei der leukämischen Lymphadenose, auch wenn die Erkrankung noch nicht lebensbedrohend schwer ist, bereits ein erhebliches Vitamin C-Defizit vorhanden ist. Schon dieses nachweisbare Defizit berechtigt also neben den bereits angeführten Gründen die Anwendung des Vitamin C besonders bei der Behandlung der lymphatischen Formen der chronischen Leukämie.
Über die Ursache des Vitamin C-Defizits, das in diesem Ausmaße nur beim Skorbut und bei anderen sehr schweren akuten Erkrankungen gefunden wird, läßt sich zur Zeit nicht viel aussagen. Bei den untersuchten myeloischen Leukämien entspricht das gefundene aktuelle Defizit von 1470 mg und 1840 mg dem bei ähnlich schweren Erkrankungen anderer Art vorhandenen Defizit. Die bei den lymphatischen Formen festgestellten Werte sind dagegen weit höher. Da eine Absättigung des Defizits bis zu einem gewissen Grade, auch wenn Röntgenbestrahlungen nicht vorgenommen werden, zu erreichen ist, ist der Schluß berechtigt, daß auch hier eine Vitamin C-Hypovitaminose vorliegt. Daß die Gegenwart stark aktiver Gewebswucherungen bei der lymphatischen Lymphadenose zu einem vermehrten Vitamin C-Verbrauch führt, ist anzunehmen. Denn nach den histochemischen Untersuchungen von TONUTTI findet sich in Geweben, die eine vermehrte Aktivität zeigen, bei ausreichender Vitamin C-Zufuhr eine reichliche Anhäufung desselben. Unter diesen Umständen würde die Verabreichung von Vitamin C diesen vermehrten Verbrauch decken. Noch nicht endgültig zu entscheiden ist aber die wichtige Frage, ob die Abdeckung des nachzuweisenden Vitamin C-Defizits die Aktivität des speichernden Gewebes erhöht und damit den Krankheitsverlauf verschlimmert, oder ob das Zurverfügungstellen der fehlenden Vitamin C-Menge sich auf die Krankheit günstig auswirkt. Der weitere Verlauf zeigte bei Nachuntersuchungen und späterer Behandlung gegenüber Leukämikern, die nicht mit Vitamin C behandelt waren, keinen Unterschied und besonders keine Vermehrung zu erwartender Rückfälle.
Die Behandlung der chronischen myeloischen und lymphatischen Leukämien lediglich mit Vitamin C führt nicht zu befriedigendem Erfolg. Das Vitamin C wirkt jedoch auf den Allgemeinzustand günstig ein und ist außerdem bei Blutungsneigungen indiziert. Bei der myeloischen Leukämie betrug das in einigen Tagen abzusättigende „aktuelle Vitamin C-Defizit“ 1000—2000 mg, bei den leukämischen Lymphadenosen war das „aktuelle Defizit“ erheblich höher. Es betrug bei mittelschweren Fällen 10 000 bis 12 000 mg. Das „laufende Vitamin C-Defizit“ betrug bei diesen etwa 200—300 mg. Die Ursache für dieses Vitamin C-Defizit ist nach TONUTTI auf eine vermehrte Zellaktivität zurückzuführen.
(Anschr. des Verf.: z. Z. Wildbad i. Schw., Reservelazarett)
Aus Deutsche Medizinische Wochenschrift, 5 April, 1940, Nummer 14, s. 369-372
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